Bérénice de Molière (2004)

Eine literarhistorische Kuriosität: zwei französische Dramatiker, Corneille und Racine, schreiben zur Zeit Ludwig XIV. parallel an demselben Stoff: Bérénice. Selbst die Uraufführung beider Stücke findet im Abstand von wenigen Tagen statt. Das Thema ist bei beiden das gleiche: wie sind Vernunft und Leidenschaft in Einklang zu bringen?

Der über sechzigjährige Corneille ist mit seinem Stück nicht erfolgreich, glaubt er doch – noch ganz Rationalist – an die Fähigkeit des Menschen, seine Leidenschaften zugunsten höherer ethischer Vernunft-Prinzipien im Zaum halten zu können. Racine aber ist das Sprachrohr der Generation der Dreißigjährigen: wesentlich skeptischer (und realistischer) schildert er, wie der Mensch zum Spielball seiner Leidenschaften werden kann, und ringt – hierin dann doch klassisch – darum, dass er diesen Kampf nicht verliert, fragt aber auch nach den Kosten des Verzichts.

Wie konnte es dazu kommen, dass beide gleichzeitig das gleiche Stück schrieben? Es gibt Mutmaßungen, dass beide – ohne voneinander zu wissen – von der Herzogin von Orléans beauftragt wurden. Was aber wäre, wenn die Herzogin den knapp fünfzigjährigen Komödianten Molière, ebenfalls ein Zeitgenosse, zeitgleich auch noch mit Aufträgen versehen hätte?

Eine Geschichte um eine Frau und um drei Männer, drei Autoren: einen intelligenten Aufklärer, einen romantischen Tragiker und einen skeptischen Komödianten…

Bérénice de Molière entführt auf eine Reise in die Theaterwelt des 17 Jahrhunderts. In dieser Zeit blüht das französische Theater mit Autoren wie Corneille, Molière und Racine zu bis dahin unerreichter Grösse auf. Diese Blüte gründet einerseits in der Rückbesinnung der Autoren auf das Theater der Antike, sowie in der Politik der absolutistischen Herrscher: Den Theatermachern werden Freiheit und Rechte zugesprochen, sie werden unterstützt und insbesondere von der inquisitorischen Zensur der Kirche geschützt. Es werden “königliche Schauspieler” ernannt und feste Spielorte geschaffen. Die Autoren und Truppen treten zueinander in Konkurrenz, Theater wird zum Thema am Hof. Bühnentechnik, Musik und Schauspiel verschmelzen zu einer neuen Theaterform: Das barocke Theater, die moderne Illusionsmaschine, wird geboren. Und -entgegen grossem Widerstand aus religiösen Kreisen- kommt es nach fast 2000 Jahren zur Wiedergebut der Komödie. Neue Genres entstehen: die Stücke werden als “pièce à machines”, philosophische Komödien, Kritiktheater oder Tragikomödien angekündigt.

Bérénice de Molière missachtet entgegen den Regeln des Barock die Einheit von Zeit, Ort, und Handlung. Das Stück gleicht einer Art Spiegelkabinett, in dem sich das Duel zwischen Corneille und Racine, darin die grosse Liebesgeschichte zwischen dem römischen Kaiser Titus und der jüdischen Königin Bérénice, und darin schliesslich eines der grössten Dramen der Geistesgeschichte reflektiert: der universelle Konflikt zwischen Leidenschaft und Vernunft, Glaube und Aufklärung. Bérénice de Molière ist eine Komödie über eine Welt, in der die Komödie selbst als minderwertige Theaterform abgetan wird (insbesondere von denen, die sie angreift, die Hüter der Verklärung und der Dunkelheit), eine Welt in der die Tragödie für die wichtigste und tiefste Form von Theater gehalten wird, in der die Darstellung von schicksalshaftem Unglück und Untergang die geläufigste Form von Unterhaltung darstellt und in der Aufklärung immer zur Vergangenheit gezählt wird. So ist Bérénice de Molière insbesondere eine historische Komödie über das was ist und das was sein könnte – das Heute.

 

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Jean Poquelin (Molière) : Roland Koch
Henriette d’Angleterre : Dorothee Hartinger
Marquise Duchamps : Sylvie Rohrer
Pierre Corneille : Martin Schwab
Jean Racine : Philipp Hochmair

Musiker:
Claus Riedl / Manfred Kuhn (Violine)
Melissa Coleman / Jörg Krah (Cello)
Michael Preuschl / Rafael Preuschl (Kontrabass)
Kurt Gold / Georg Wagner (Klavier)

Regie und Bühne  Igor Bauersima
Mitarbeit Bühne Alexandra Deutschmann
Video Georg Lendorff
Kostüme Johanna Lakner
Komposition Efim Jourist
Licht Hans Siegel
Dramaturgie Joachim Lux

Regieassistenz Michael Schöndorf
Bühnenbildassistenz Ulrich Leitner
Kostümassistenz dagmar Bald
Dramaturgieassistenz Gwendolyne Melchinger
Regiehospitanz Sebastian Hellinger
Kostümhospitanz Andrea Bauer
Inspizienz Herbert Hoffmann
Souffleuse Susanna Pfann

Uraufführung am 27. Februar 2004, im Burgtheater Akademietheater in Wien

“Auf diese Art entsteht in raffinierter Verknüpfung von Fakten, Zitaten und dichterischer Phantasie ein Gustostück für literarische Gourmets. 
Doch die Inszenierung sorgt dafür, dass der kulinarische Genuss auch ohne literarisch-historische Voraussetzungen gewährleistet bleibt. Bauersima lässt mit Projektionen (Video: Georg Lendorff) auf der Bühne eine ästhetisch perfekte Barockwelt erstehen, wo die im höfischen Kostüm und mit Allongeperücken agierenden Personen (Kostüme: Johanna Lakner) im königlichen Garten oder auf den Straßen von Paris promenieren. 
Martin Schwab macht den großen Corneille, der, zwischen selbstbewusster Eitelkeit und Verunsicherung schwankend, letztendlich erkennen muss, dass seine Zeit als Dichter und Frauenheld abgelaufen ist, zur berührend tragikomischen Figur. Philipp Hochmairs jugendlicher Racine ist ein Newcomer par excellence, der mit seiner für die Bérénice ausersehenen Protagonistin nicht nur künstlerisch innigst verbunden ist. 
Sylvie Rohrers Marquise Duchamps […] wahrt ihre neu errungene starre Würde der Tragödinnenrolle auch im Leben, während Dorothee Hartinger als quirlige Henriette d’Angleterre, die ihr Herz hoffnungslos an den aufstrebenden Jean Racine verliert, schlichtweg bezaubert. Und mitten drinnen agiert Roland Koch unnachahmlich und souverän als Molière: ein Publikumsliebling, der seine eigene Größe als Komödiendichter gering schätzt, da ja die Tragödie im literarischen Diskurs weit höher steht. 
Fazit: ein außergewöhnlicher, eigenartiger, mit begeistertem Applaus bedachter Abend”. (Wiener Zeitung)


So geschliffen, beschwingt und geistreich könnte Theater sein – wenn nicht der wortschwafelnde Seelenschleimer Racine Mode geworden wäre! […] Ist es das, was uns Igor Bauersima mit seinem Kostümstück „Bérénice de Molière“ sagen will? […] Für seine Bérénice, die er verspätet für Molière geschrieben hat, wünschte er: einmal keine Adidasstreifen, sondern Allongeperücken und barocke Roben. Doch blieb er nicht im Kostümschinken sitzen, so hinreißend setzte er die Sprache als schneidende Waffe ein. […]
Nun setzt Roland Koch als tänzelnder und blondgelockter Molière auf der Akademietheaterbühne auf die Entblößung des Karrieristen Racine (Philipp Hochmair). Und der großartige Martin Schwab steht da als nobler, goethegleicher, altersmüder Corneille, heldischer Beherrscher seiner Gefühle und deshalb unmodern geworden. Erst recht neben der frischfröhlich glucksenden Prinzessin (Dorothee Hartinger) und der Schauspielerin, die mit Sylvie Rohrer eine kühle Schärfe bekommt, welche den Witz dieses hochartifiziellen Theaters auf die Spitze treibt. Bauersima, auch Regisseur und Ausstatter, baut mit filmischen Projektionen auf Gazestoffbahnen die barocke Illusionsmaschinerie nach; die Leichtigkeit des im Nu umschwingenden Bühnenbilds ermöglicht rasche Szenenwechsel. Ein Vexierspiel in vieler Beziehung. Erfrischend. (FAZ Sonntag

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Bérénice de Molière, traduction française de Heike Mittler et Muriel Weiss, 2008

©  Igor Bauersima und Réjane Desvignes, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main